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Das „Wesentliche“ ist nicht immer das „Akute“

Warum Inspiration für neue Stücke manchmal ein eher „erschrecktes Einatmen“ ist und welche sie für die dringlichsten Themen unserer Zeit hält verrät SCHÖNER WOHNEN-Textautorin und -Regisseurin Amy Stebbins im Interview:

Wie ist SCHÖNER WOHNEN entstanden? Gab es erst den Text, der dann vertont wurde? Oder haben Sie den Text gemeinsam mit dem Komponisten erarbeitet?

A.S.: Na, das „Stück“ ist ja erst nach der Premiere fertig, denn es ist natürlich viel mehr als die Summe aus Text und Musik. Jetzt stehen vor uns erstmal die fünf Wochen musikalisch-szenische Proben. Diese Arbeit, die Zusammenarbeit mit den Darstellern, ist für die Entstehung von SCHÖNER WOHNEN genauso essenziell wie die Arbeit am Schreibtisch vorher. Ursprünglich, also vor der Pandemie, waren eigentlich sogar drei Phasen geplant: Erst eine gemeinsame Improvisationsphase, zwei Wochen mit voller Besetzung, um Situationen, Dialoge, Sprache und Musik auszuprobieren, dann eine intensive Schreibphase, in der John (Sir Henry, der Komponist, Anm.d.Red.) und ich uns zurückziehen wollten, und dann vier Wochen Endproben. Nun hat das Virus uns gehörig durchgeschüttelt, und so haben wir uns geeinigt, dass ich auf die Proben eine Art prototypisches Libretto, ein Protoskript, ein dramaturgisches Gerüst mitbringe, auf dessen Basis John musikalisches Material zubereitet. Von hier aus brechen wir dann eben auf in eine von Improvisationen geprägte Probenzeit.

Wie ist Ihre Arbeitsweise bei der Beschäftigung mit einem Stoff? Wo finden Sie Inspiration?

A.S.: Die „Inspiration“, kommt ja eigentlich von „Einatmen“: Meistens ist das ein erschrecktes Einatmen, weil man sich jetzt für dieses Stück interessieren soll, weil der Intendant, die Intendantin leider eine Idee hatte (die Theaterleitungen halten sich ja gerne für Metakünstler). Ein Glücksfall ist es, wenn, wie hier bei uns in Neukölln, die Intendanz wirklich danach fragt, wofür die Künstler brennen. Das hat mich hier sehr gefreut.

Wie Ihre Vita zeigt, sind Sie ja immer interessiert an aktuellen Themen und Entwicklungen. Welche Themen halten Sie derzeit für die Wesentlichsten?
A.S.: Nicht immer ist die Kunst ein gutes Werkzeug, die dringlichsten Probleme zu lösen. Wenn das Haus brennt, bestellt man ja auch die Feuerwehr und nicht die Opernregisseurin. Die Mehrheit der Menschen würde wohl sagen, dass der Klimawandel die drängendste globale Bedrohung unserer Zeit ist. Aber zur Abwendung der Klimakatastrophe ist direkte politische Arbeit garantiert wirksamer als Kunst. Allerdings ist das „Wesentliche“ nicht immer das „Akute“: Kunst macht Beziehungen fassbar, solche zwischen Menschen, gesellschaftliche Beziehungen: Mechanismen der Machtausübung, der Gewalt auch, unseren Umgang mit den Lüsten. Und dieses „Fassbarmachen“ vermag sinnliches Verstehen auszulösen, das dann vielleicht die Voraussetzung für Handeln wird, für politisches Handeln. Das „Wesentliche“ unserer Zeit? Das ist dann eher das Wegbrechen der auf Wachstum ausgerichteten Zukunftsvorstellung des Westens. Der Verlust einer allen gemeinsamen Fortschrittserzählung. Die Implosion von linearer Geschichtlichkeit. Sowas wäre vielleicht das „Wesentliche“. Das prägt sich dann in den diversen Krisen aus. Klingt natürlich viel theoretischer, als wenn ich jetzt sage: „Artensterben“, oder „Rechtspopulismus“.

Können Sie die Art Ihrer Regiearbeit mit den Darstellern charakterisieren und beschreiben?
A.S.: Die Arbeit ist immer anders, weil es immer andere Darsteller sind. Ich freue mich riesig auf Daniel Sellier und Claudia Renner, denn wir haben noch nie zusammengearbeitet. Und weil wir hier, anders als etwa bei einer großbesetzten Oper, viel flexibler sind, können die Darsteller, John und ich uns viel partnerschaftlicher zusammenfinden. Ich glaube, hier geht es erstmal sehr darum, sich gegenseitig Angebote zu machen. Und dann werden wir uns schon einigen.

Welches waren und sind die wichtigsten Stationen auf Ihrem künstlerischen und persönlichen Weg?
A.S.: Meine Zeit als Hospitantin und Assistentin an der Volksbühne war die absolut prägendste Zeit. Man unterschätzt in Deutschland sehr den Unterschied zwischen der deutschen und US-amerikanischen Theaterkultur. Am Rosa-Luxemburg-Platz, bei den Mitarbeitern dort, da habe ich Theater gelernt.

Was liegt Ihnen künstlerisch besonders am Herzen?
A.S.:
Die Aktivierung eines historischen Bewusstseins. Ansonsten schreiben wir unsere katastrophale Vergangenheit immer weiter fort. Deshalb sind auch „Einzelschicksale“ für’s Theater langweilig, gefährlich gar. Weil sie ablenken, Scheinaktualität produzieren. Bitte keine Kirche, keine Privatbeichten und identitätspolitisches Rosenkranzbeten auf der Bühne. Und dann: Das Publikum ernst nehmen. Die sind extra für uns gekommen, geben uns ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit. Viel zu viel neues Musiktheater in Deutschland interessiert sich nicht für sein Publikum, sondern für den Bauchnabel seiner Autoren.

Welche Projekte werden Sie in diesem Jahr noch angehen?
A.S.:
Ich drehe einen Kurzfilm für die Tonhalle Düsseldorf, gemeinsam mit dem Medienkünstler Lukas Rehm und dem Komponisten Hauke Berheide, danach inszeniere ich eine Uraufführung in Hildesheim. Das Libretto dort ist nicht von mir – sowas habe ich noch nie inszeniert… Danach habe ich noch eine lange Schreibephase mit zwei Uraufführungen für 2024.

Die Uraufführung von SCHÖNER WOHNEN ist am 16.05.2022.

Das Interview führte Magdalena Weidauer. In gedruckter Form erschien der Text im März 2022 in NoWumm, der Mitgliederzeitung des Neuköllner Oper e. V.

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