
EDITORIAL
Feuer, Theater, Zauberstab
Als ich Roland Schimmelpfennig kennenlernte und ihn bat, zur Eröffnung des lange geplanten, nun endlich errichteten Schauspielhauses, des „Kleinen Hauses“ des Staatstheaters Mainz ein Stück zu schreiben – das war 1997/98 und ich war dort Chefdramaturg – entstand ein Stück mit dem ungewöhnlichen Titel „Aus den Wäldern in die Städte, aus den Städten in die Wälder“ und einem geheimnisvollen Inhalt: eine Art Parabel über das Theater und ihre darin verwobenen, verstrickten Seelen, sprich die Theaterleute. (Unter ihnen übrigens auch ein Theaterintendant, der sein Theater abfackelt – keine schlechte Eröffnung zur Einweihung eines Theaterneubaus;) – aber das war natürlich erst der Beginn des Stücks). Über 25 Jahre später heißt es nun für mich, einen liebgewordenen Ort namens Neuköllner Oper zu verlassen (und besser, ohne ihn abzufackeln) – Roland schlug vor, zu diesem Anlass „etwas beizusteuern“. So darf ich meine Zeit hier beenden mit wieder einem wundersamen Text von Roland Schimmelpfennig: und welch ein Zeichen – auch diesmal brennt ein Theater ab, aber halt: es ist ja gar kein Theater, es ist ein Zirkus! Und was für einer, es ist der Wanderzirkus Narva, der schon auf der ganzen Welt unterwegs war und nun in einem Vorort, einer mit Hochhäusern umstandenen Brache sein Zelt aufschlägt.
Das hat es mir angetan, wie viele der unbeschreiblichen Momente, für die ich seine Stücke liebe (und wenn ich unbeschreiblich sage, meine ich eigentlich magisch, aber das klingt jetzt auch wieder so pathetisch). Roland hat es ermöglicht, dass das Motiv vom Wanderzirkus aus dem fast gleichnamigen Stück hinausdurfte und seinen Weg in eine neue Existenz in und durch Musik und hier auf unsere Neuköllner Bühne finden konnte. Ich bin dankbar, dass das darin verwobene Motiv des Gleichzeitigkeitszirkus hier Gestalt findet zum Abschluss unseres Tuns und Bemühens, unserer Träume und ihres Scheiterns von uns Theaterleuten hier in dem kleinen Zelt namens NKO. Und uns auf so – sorry, nochmal ein großes Wort – poetische Weise daran erinnert, was und wer wir sind: Artisten mit einem leeren Zylinder und einem großen Vorrat an Visionen und Wünschen, unser Publikum immer wieder mitzunehmen beim Versuch, die Welt anders zu erzählen und zu einer anderen, vielleicht besseren zu machen. Ein eigensinniger Trieb, den wir allem Irrsinn zum Trotz nicht unterdrücken können – oder wie Roland zum HALBEN MOND einmal schrieb: „Die Zeit, die Welt ist aus den Fugen, sie dreht sich, kreiselt, taumelt, in Krisen, Kriegen, Krankheiten, vergiftet an sich selbst, und die Kunst, die Künstler versuchen, um all das Chaos, all den Schmerz durch ihre Arbeit einen Ring zu schließen, der es zusammenhält….“
Danke Roland, und danke Euch „Zirkusleuten“ auf der Bühne Karoline und Jakob und der an/abwesenden Corinna!
Bernhard Glocksin, zum 22.Juni 2025
Zur Regie
Ein Montag im April, 10:00, die NKO-Probebühne ragt über den Dächern Neuköllns, wir sehen die Gropiusstadt in der Ferne, hören durch die offenen Fenster das Treiben der Karl-Marx-Straße. Im Haus gegenüber sitzt jemand rauchend am Küchentisch, unten taumeln ein paar Club Besucher*innen aus dem Sameheads, im Innenhof schreit sich eine Gruppe Männer an, Sirenen tönen, und wir diskutieren darüber, ob der Gummi- oder der Fellschlegel am Gong besser klingt.
Es ist diese Art von surrealer Gleichzeitigkeit, die mich als Kunstschaffende umtreibt, und die in Roland Schimmelpfennigs Text so eindrücklich beschrieben wird. Wozu das Ganze? Die Welt steht in Flammen und wir denken uns ein Lied aus. Welche Bedeutung hat das Glauben an Zauber, an Spiel und Fantasie, an Theater, wenn die äußeren Umstände dir widerspiegeln, dass nichts Sinn hat, du immer ungehört bleiben wirst?
Schimmelpfennigs Text ist eine Einladung: Zum Aufhorchen, zum Anerkennen anderer Lebensrealitäten, zum stoischen Glauben an einen Zauber, egal wie unzuverlässig er sein mag. Corinna Harfouch hat mit ihrer Stimme zusätzlich eine Erzählebene geschaffen, die uns mahnt, bei allem Ernst das radikale Spiel als Akt des Widerstands nicht zu unterschätzen.
Karoline Gable
Zur musik
Wir bewegen uns in wundersamen Dimensionen. Der Text durchbricht Zyklen oder passiert sie. Weniger geometrisch: Wir wollen die Kreisförmigkeit mit unseren Mitteln, der Fassung, der Bühne, der Musik betonen. Wie klingt das? Gar nicht kompliziert. Assoziativ. Räumlich. Verfremdung. Samples. Collagen aus Krach und Stimme. Humorvoller Grusel. Field Recordings. Hybride Klangkörper. Was kommt von wo und warum? Oder warum nicht? Suchen. Finden. Locken. Verwirren. Aufbäumen. Schwelgen. Trauern. Alles darf. Hauptsache keine KI.
Jakob Dinkelacker
BETEILIGTE
MUSIK Paul Jakob Dinkelacker REGIE Karoline Gable AUSSTATTUNG Sarah Schimke STIMME Corinna Harfouch REGIEASSISTENZ/ PRODUKTIONSLEITUNG Melena Elsner, Anika Stauch
TECHNISCHE PRODUKTIONSLEITUNG Helmut Topp TON Sören Schwedler Klim Losovsky, LICHT Ralph Arndt ABENDTECHNIK TON Sören Schwedler, Sebastian Vivas, Klim Losovsky, Ronald Dávila Dávila, Michel Tuttle ABENDTECHNIK LICHT Ralf Arndt, Torsten Litschko, Oliver Lesky, Moritz Meyer BÜHNENBAU Gregor von Glinski, Marc Schulze, Rui Wegener, Ralf Mauelshagen, Pet Bartl-Zuba, KOSTÜMABTEILUNG Christina Kämper (Leitung), Kathy Tomkins KOSTÜMASSISTENZ Elena Gorlatova EINRICHTUNG MOBILE ÜBERTITEL Kathrin Grzeschniok OPERATOR MOBILE ÜBERTITEL Elias Schumacher, Renée Stulz ÜBERSETZUNG Albert Tola, MASKE Anne-Claire Meyer ABENDSPIELLEITUNG Sophie Reavley
BIOGRAFIEN
roland schimmelpfennig | text

Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: »Die Frau von früher«, »Trilogie der Tiere«, »Der goldene Drache« und »Anthropolis«. 2016 erschien sein erster Roman »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts«, der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Es folgten die beiden Romane »Die Sprache des Regens« (2017) und »Die Linie zwischen Tag und Nacht« (2021).
Bei der jährlichen Umfrage der Kritiker*innen des Magazins »Theater heute« wurde er zum Dramatiker des Jahres 2024 und „Laios“ zum Theaterstück des Jahres gewählt.
Zuletzt erschien sein Roman »Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen« (2025). Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin und Valencia.
paul jakob dinkelacker | musik, spiel

Paul-Jakob Dinkelacker wuchs in einem musikalischen Haushalt auf, lernte Waldhorn und klassisches Schlagwerk, besuchte die Waldorfschule und ein humanistisches Gymnasium. Seit seinem zweiten Lebensjahr begegnet er dem Klavier autodidaktisch. Ein Musikstudium (Jazz und Pop) an der HfMdK Mannheim absolvierte er 2014 mit Bestnote.Seitdem arbeitet Dinkelacker überwiegend als Theatermusiker und -performer, im Kollektiv oder solo. Es entstanden Arbeiten mit Ulrike Arnold, Anna Bergmann, Sandra Bezler, Brian Bell, Donald Berkenhoff, Christian Brey, Ekat Cordes, Ersan Mondtag, Daniel Pfluger, Erich Sidler u.v.v.m. Abseits des Theaters, live oder im Studio, spielt er bei Fabian Simon, Hotel Rimini, Tristan Brusch, Trümmer oder dem Humboldt Resident Music Collective. Seit 2020 beschäftigt er sich vermehrt mit der Hybridisierung und Präparation elektroakustischer Instrumentalsetups und bildet sich fort im Bereich Sounddesign. Seine Experimente konnte er als Stipendiat der GEMA und dem Musikfonds e.V. konkretisieren. Dinkelacker interessiert sich für Klänge, die anders sind, sich aber in etwas schon da Gewesenes ästhetisieren lassen. Auf dieser Suche baut oder präpariert er intuitiv Instrumente. Sein Konzept stellte er 2023 als Gastdozent an der Bauhaus-Universität in Weimar vor. Dinkelacker lebt mit seiner Familie in Berlin.
karoline gable | regie, spiel

Karoline Gable ist international arbeitende Schauspielerin, Sängerin, Autorin und Regisseurin. Ihrer Ausbildung an der Universität der Künste Berlin sowie der Royal Academy of Music London folgten Engagements an den Schauspielbühnen Stuttgart, am Londoner National Theatre & West End im Schauspiel OSLO, am Raimundtheater Wien, und für das Metropolitan Museum of Art, New York. Ihre Regiearbeit ist interdisziplinär, umfasst Musik- und Sprechtheater, sowie das Entwickeln neuer Stücke. Sie inszenierte u.a. das Cabaret FURY&ELYSIUM für The Other Palace Theatre, London sowie das Schauspiel EMILIA für die Arts Educational Schauspielschule in London. Im Januar 2026 wird sie am Landestheater Linz die Uraufführung des neuen Musicals DIE MITTE DER WELT (nach Andreas Steinhöfel) inszenieren. Sie ist Co-Autorin und Komponistin von HUMAN RESOURCES, das derzeit entwickelt und vom Arts Council England unterstützt wird. Karoline ist freischaffende Dozentin für Gesang, Schauspiel und Artist Development und arbeitet u.a. an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und der UdK Berlin.g.
bernhard Glocksin | Dramaturgie

Künstlerische Leitung der Neuköllner Oper seit 2004. Zuvor Dramaturg und Chefdramaturg für Musiktheater in Hannover, Zürich, Salzburg und Mainz. 1999-2002 Chefdramaturg / stellvertretender Intendant am Deutschen Theater Göttingen. Uraufführungen und Autoren-Werkstätten mit T. Dorst, F. Richter, R. Schimmelpfennig, J. von Düffel, L. Hübner u.a. An der Neuköllner Oper Adaptionen, Inszenierungen und Stücke, Festivals und internationale Koproduktionen. Nebenher freischaffend Juror, Projektmacher, Gastdozent und Lehrbeauftragter.
sarah schimke | BÜHNE & KOSTÜM

Sarah Schimke ist freie Kostüm- und Bühnenbildnerin. Sie ist überwiegend im Musiktheater und Schauspiel unterwegs, hin und wieder aber auch für Film- und Fernsehproduktionen, so wie im Bereich (Tanz)Performance.Nach ihrem Modedesign-Studium (2015) an der HTW Berlin hat sie vorerst frei in ihrem Atelier gearbeitet, Kostüme angefertigt und sich mit Fotografie und Textildesign beschäftigt, um 2017 dann ein Studium an der Ostkreuzschule für Fotografie zu beginnen. Nach weiteren Jahren freien Schaffens im Atelier vermisste sie das Arbeiten im Team und bewarb sich an der Neuköllner Oper in der Kostümabteilung.
Darauf folgten diverse Ausstattungsassistenzen an unterschiedlichen Theaterhäusern innerhalb Deutschlands und Österreichs, bei denen sie unter anderem mit Emre Akal, Kyrill Seribrennikov und Ulrike Arnold zusammenarbeiten durfte.
melena elsner | Produktionsleitung, Regieassistenz

Melena Elsner (geb. 2000) arbeitet als Regieassistentin und Produktionsleiterin. An der Schaubühne Berlin war sie als Regieassistentin, Soufflage und künstlerischer Produktionsleitung tätig, u. a. in Arbeiten von Simon Stone, Robert Lepage, Yael Ronen und Sarah Kohm. In der freien Szene wirkte sie als Co-Regisseurin an Lulu – Hydra am Theater im Kino Berlin mit. Erste Theatererfahrungen sammelte sie am Schauspiel Hannover.
Anika stauch | Produktionsleitung, Regieassistenz

Anika Stauch, geboren in Kronach, studierte Theater- und Medienwissenschaften an der Universität Bayreuth. 2021 debütierte sie als Regisseurin mit einer Inszenierung von »Im Herzen der Gewalt« am Staatstheater Meiningen, wo sie von 2017 – 2021 assistierte. Anschließend wechselte sie an die Schaubühne am Lehniner Platz und arbeitete u. A. mit Marius von Mayenburg, Stas Zhyrkov, Yana Thönnes und Yael Ronen. Währenddessen realisierte sie eigene Arbeiten: 2022 gewann sie mit ihrem digitalen Theaterstück »trail_thielx« den Regienachwuchswettbewerb am Theater Erlangen. 2023 zeigte sie am State Small Theatre of Vilnius in Litauen ihre Stückentwicklung »Bamba« (Bauchnabel). Seit 2024 ist sie freischaffend mit Engagements am Staatstheater Meiningen »Hi Siri – Kill me!« und an der Schaubühne »Die Entführung der Amygdala«. Die Zusammenarbeit mit Karoline Gable bei HALBER MOND führte sie erstmalig an die Neuköllner Oper.